12.5.2021
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Ein Denkmal für Deserteure ist eine gute Idee!

Interview mit dem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages,Thomas Oppermann

Sebastian Fikus: Der erste Vorsitzende der SPD nach dem Krieg war Kurt Schumacher. Ein Held der Widerstandbewegung, der in Culm geboren war. Da erselbstaus einer Stadt kam, die nach 1945 dem polnischen Staat übertragen worden war, bemühte ersich verstärkt um die Angelegenheiten der Umsiedler. Vielleicht auch dadurch war am Anfang die SPD die Partei, mit dersich die ehemaligen Schlesier besonders gerne identizierten. Erst nach den Wahlen im September 1969 hat SPD die Richtung in Rahmen der neuen Ostpolitik, geändert. War das aus heutiger Sicht ein Fehler?

Thomas Oppermann
Foto:Olaf Kosinsky

Sebastian Fikus: Der erste Vorsitzende der SPD nach dem Kriegwar Kurt Schumacher. Ein Held der Widerstandbewegung, der inCulm geboren war. Da erselbstaus einer Stadt kam, die nach 1945dem polnischen Staat übertragen worden war, bemühte ersichverstärkt um die Angelegenheiten der Umsiedler. Vielleicht auchdadurch war am Anfang die SPD die Partei, mit dersich dieehemaligen Schlesier besonders gerne identizierten. Erst nachden Wahlen im September 1969 hat SPD die Richtung in Rahmender neuen Ostpolitik, geändert. War das aus heutiger Sicht einFehler?

Thomas Oppermann: Die wesentlich vom späterenFriedensnobelpreisträger Willy Brandt vorangetriebene neueOstpolitik der Bundesrepublik, die, bezogen auf Polen, zumWarschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 führte, war ganzsicherlich kein Fehler. Die Entspannungspolitik der damaligenSPD-geführten Bundesregierung hat nicht nur Europa ein Stücksicherer gemacht, sondern auch das schwer belastete deutschpolnische Verhältnis entspannt und einen Aussöhnungsprozesseingeleitet, ohne den der spätere Freundschaftsvertrag kaummöglich gewesen wäre.Viele prominente Sozialdemokraten waren Schlesier, denken Sienur an Ferdinand Lasalle oder Paul Löbe, den aus Liegnitzstammenden ersten sozialdemokratischenReichstagspräsidenten.Natürlich war der Verlust der deutschen Ostgebiete, der eineFolge des von Nazi-Deutschland angezettelten ZweitenWeltkriegs war, schmerzlich. Auch viele Sozialdemokraten wieetwa Paul Löbe, die stets gegen die Nazis gekämpft hatten,mussten sich in die Masse der Millionen Vertriebenen einreihen.Schumacher warim westpreußischen Kulm geboren, das schon1920 Polen zugesprochen wurde, er war kein Schlesier. Dennochstimmt es natürlich, dass Schumacher die Belange der aus denehemals deutschen Gebieten Geüchteten und Vertriebenennachhaltig in derjungen Bundesrepublik vertreten hat. Hätte eres noch erlebt, wäre er aber sicherlich ein starker Unterstützerder Ostpolitik Brandts gewesen.

Die Spannungen zwischen der SPD und den Vertriebenen dauertenJahrzehnte. Sogar nach der Wende hatte man den Eindruck, dassdie SPD gegen die Bewegung der deutschen Minderheit inSchlesien war. Gab es ein Ereignis, oder einen bestimmten Punkt,nach dem die SPD das Verhältnis zu der deutschen Minderheitgeändert hat??

Ich würde nicht sagen, dass es Spannungen zwischen „den“Vertriebenen und der SPD gegeben hat. Richtig aberist: Es gabSpannungen zwischen der SPD und den revisionistischen Kreiseninnerhalb einiger Vertriebenenverbände, die nicht einsehenkonnten, dass die Westverschiebung Polens eine Folge desHitler-Stalin-Paktes und des von Deutschland angezetteltenKrieges war.Zu den auf Aussöhnung bedachten Vertriebenenverbänden hatdie SPD immer beste Kontakte unterhalten. Einige derSpitzenpolitiker der SPD, denken Sie etwa an dieSudetendeutschen Wenzel Jaksch oder Peter Glotz, haben derVersöhnungspolitik entschiedene Impulse gegeben.Der SPD ist immer bewusst gewesen, dass die Deutschen, dienach 1945 nicht aus Polen vertrieben wurden und dann nach derUmsiedlung polnischer Bevölkerung nach Schlesien, Pommernund Ostpreußen zwangsläug zu einer Minderheit in der eigenenHeimat geworden waren, zu einem großen Teil auch gegen ihrenWillen im neuen Westpolen verbleiben mussten. Sie wurden alsFachkräfte benötigt.Im Rahmen der Ostpolitik Brandts, die zur Entspannung desdeutsch-polnischen Verhältnisses führte, hat sich die SPD dannsehr stark dafür eingesetzt, dass ausreisewillige Deutsche dieserMinderheit auch wirklich ausreisen und in die Bundesrepublikumsiedeln durften. Das warihnen lange verwehrt worden.Nach der Wende betrachtete die SPD die zunächst starkansteigenden Zahlen von Aussiedlern aus Polen eher als Teileiner umfassenden postkommunistischenMigrationsbewegung.Soweit sich aus Polen Ausreisende aufBasis der von Nazi-Deutschland vor allem 1941 dekretiertenSammeleinbürgerungen nach dem damals gültigenStaatsangehörigkeitsrecht darauf beriefen, Deutsche zu sein unddementsprechend einen Anspruch auf Einbürgerung in derBundesrepublik zu besitzen, so sah die SPD dies sehr kritisch. Sieverwies mit allem Recht darauf, dass dieses alte NS-Recht kritischhinterfragt und seine Gültigkeit in Frage gestellt werden müsse.Im postkommunistischen Mitteleuropa sollte es bessereMöglichkeit geben, Migrationsfragen zu lösen, so die SPDPosition seinerzeit. Dies kann aber nicht als Veränderung odergar als Verschlechterung des Verhältnisses der SPD zurdeutschen Minderheit in Polen interpretiert werden.

Die SPD hatsich immer als Vertreter der Schwächeren verstanden.Die Deutschen in Schlesien waren Jahrzehnte lang von dempolnischen Staat benachteiligt. Auch nach der Wende, trotzmassive Unterstützung aus Deutschland, entwickelte dieOrganisation der deutschen Minderheit kein ansehnlichesKulturleben. Wenn man die Anzahl der Deutschen und dieMillionen Euro, die nach Schlesien geossen sind, berücksichtigt,sind die Ergebnisse eher deprimierend. Vielleicht braucht dieOrganisation auch andere Hilfe als nur das Geld?

Die Hilfe, die der deutschen Minderheit in Polen zuteilwerdenkann, und dies gilt ebenso für alle anderen Minderheiten inEuropa, kann letztlich nur durch ein lebendiges Europa ohnenationalistische Verirrungen erbracht werden. In vielen RegionenEuropas wird deutsch gesprochen, ohne dass alledeutschsprachigen Menschen von Deutschland unterstütztwerden müssten.Deutsche in Schlesien oder andernorts in Polen genießen dieFreizügigkeit, viele halten doppelte Staatsbürgerschaften, vielekönnen sich in Deutschland und auch in Polen bei Wahlendemokratisch artikulieren.Aber Sie haben insofern Recht, dass die kulturelle Zugehörigkeitzu einem Sprachraum selbstverständlich nicht allein durch Geldstabilisiert werden kann. Mit Sorge sehe ich zum Beispiel, dassnicht überall dort zweisprachige Ortsschilder aufgestellt werden,wo hierauf ein Anspruch besteht. Und das Unterrichtsverbot fürDeutsch als gleichzeitige Fremd- und Minderheitensprache inden letzten beiden Grundschulklassen erschwert für dieAngehörigen der Minderheit den Spracherwerb.Richtig ist aber auch, dass der kulturelle Austausch sowohl mitDeutschland als auch mit Polen der deutschen Minderheit zueiner wertvollen Brücken- und Vermittlerrolle verhelfen kann, diesie selbstbewusst ausfüllen sollte. Solche Vermittlung braucht Europa.

Die größte Errungenschaft der Deutschen Minderheit ist der Erfolgbei den Wahlen. Um ihn zu erzielen, konzentriert die Organisationsämtliche Kräfte. Wäre es nichtsinnvoll, die Eliten der deutschenMinderheit davon zu überzeugen, die kulturellen und politischenAktivitäten sauber zu trennen? Damit würde man den Verdachtentkräften, dass auch die Mittel der Bundesregierung hier eineRolle spielen?

Die Zeiten, in denen mit ausländischem Geld in anderen LändernWahlenbeeinusst werden können, sollten zumindest in derEuropäischen Union der Vergangenheit angehören. Wenn derdeutschen Minderheit Gelder aus Deutschland zuießen, dannsicherlich nicht, um damit in Polen Wahlen zu beeinussen, auchkeine Regionalwahlen in Schlesien. Zuießende Mittel sind alsosicherlich bestenfalls kulturellen Einrichtungen, etwaBildungsstätten zugedacht.Im Übrigen ist es natürlich die freieEntscheidung der demokratisch gewählten Vertreter derdeutschen Minderheit, wo sie die Schwerpunkte ihrer politischenund kulturellen Arbeit setzen. Anzunehmen, dass dies maßgeblichaus Deutschland beeinusst werde, ist abwegig.

Sie sind ein Verfechter der Reform des Bundestages. Obwohl dieDeutschen in Schlesien in der Bundesrepublik wahlberechtig sind,nehmen nur die wenigsten davon Gebrauch. Wird esin Rahmender Reform eine neue Regelung geben, um ihren Wahlgang weiterzu erleichtern oder noch mehr attraktiver zu machen?

Bei der Reform des Bundestages geht es um dessen Größe. Dievon unserer Verfassung vorgeschriebene Größe ist bei denvergangenen Wahlen um mehr als hundert Mandatsträgerüberschritten worden. Es gilt also, die Zahl der Abgeordneten zureduzieren, ohne dadurch Substanz und Qualität derdemokratischen Volksvertretung allgemein zu minimieren. DieseReform berührt die Methodik der Stimmabgabe von Inhabernzweier Staatsbürgerschaften oder auch von im Ausland lebendenDeutschen nicht. Die beabsichtigte Reform des Bundestagesberührt diese Fragen nicht

Jahrzehntelang litten die Deutschen in Polen unter dem Verdacht,Komplizen der NS Herrschaft gewesen zu sein. Dabei waren ganzviele von ihnen selbst Opfer der Nationalsozialisten. Wir haben dieInitiative ergriffen, in der Landeshauptstadt Oppeln ein Denkmaleines Unbekannten Deserteurs der Wehrmacht einzurichten. Wirglauben, dassso ein Denkmal eine überzeugende Distanzierungvon dem verbrecherischen Angriffskrieg der Nationalsozialistenbedeuten würde. Wäre diese Initiative im Sinne desVermächtnisses von Kurt Schumacher??

Kollektivschuld und Kollektivstrafen können die Individualschuldrelativieren und sind daher wenig hilfreich, die der Verbrechenwirklich Schuldigen zu bestrafen. Das gilt auch für die in Schlesienlebenden Deutschen. Ihre Eltern oder Großeltern waren wie inanderen Teilen Deutschlands entweder Unterstützer, Mitläuferund Mittäter oder eben Gegner der NS-Diktatur. KollektivenVerdacht gegen die heute in Schlesien lebenden Deutschen zuhegen, wäre geradezu anachronistisch, denn die meisten vonihnen haben die NS-Zeit überhaupt nicht erlebt.Aber die Lehren aus der Geschichte müssen alle ziehen: Ein solchbarbarischer Kulturbruch wie die NS-Diktatur darf sich niewiederholen, das ist das Erbe, das wir heute lebenden Deutschenangetreten haben. In Deutschland, aber auch in anderen StaatenEuropas ist es Zeit zu erkennen, dass Nationalismus ein Irrwegist.Erführt, zu Ende gedacht und politisch umgesetzt, immer zuKrieg.Wer sich Krieg damals wie heute widersetzt, dem darf man gernein Denkmal errichten. Das wäre sehrim Sinne KurtSchumachers. Und auch ich nde, das ist eine gute Idee!Aberlassen Sie mich zum Schluss noch eines ergänzen: DieEuropäische Union ist ein Friedensprojekt, gespeist nicht zuletztaus den bitteren Erfahrungen derideologischen Verirrungen undder mörderischen Kriege des letzten Jahrhunderts. Grenzen, woimmer sie verlaufen zwischen Staaten in Europa, sind seltenunumstritten, aber wir alle haben uns darauf verständigt, sie nichtmehrin Frage zu stellen. Sie auch in unseren Köpfen zuüberwinden, ist das Gebot der Stunde. Je mehr uns dies gelingt,desto weniger müssen wir über Rechte ethnischer odersprachlicher Minderheiten in Europa sprechen. Denn dann sindheutige Mitglieder dieser Minderheiten endlich das, was wir allesind: Europäer.

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