Das vereinte Europa steht vor neuen Herausforderungen. Alte Vorstellungen von der eigenen Identität beziehen sich oft auf die Konfrontation mit den Nachbarn, mit denen man sich inzwischen näherkommt und besser versteht. Die Abneigungen verlieren sowohl ihre Glaubwürdigkeit als auch ihre Überzeugungskraft. Daher das Postulat, eine neue europäische Identität aufzubauen. Robert Traba erörtert dessen Perspektiven in seinem Buch.
Das vereinte Europa steht vor neuen Herausforderungen. Alte Vorstellungen von der eigenen Identität beziehen sich oft auf die Konfrontation mit den Nachbarn, mit denen man sich inzwischen näherkommt und besser versteht. Die Abneigungen verlieren sowohl ihre Glaubwürdigkeit als auch ihre Überzeugungskraft. Daher das Postulat, eine neue europäische Identität aufzubauen. Robert Traba erörtert dessen Perspektiven in seinem Buch.
Prof. Robert Traba ist zweifellos einer der bedeutendsten zeitgenössischen polnischen Historiker. Ausdruck seines Engagements für die deutsch-polnische Annäherung ist sein Buch "Die deutsche Besatzung in Polen", das kürzlich in Berlin erschienen ist. Der Titel spiegelt die darin enthaltenen Gedanken nur teilweise wider. Robert Trabas These ist, dass wir es heute mit der größten Identitätskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben.
Es gibt viele Gründe für diese Krise, aber einer der wichtigsten ist wahrscheinlich das Entstehen großer transnationaler Kommunikationsräume, in denen gegenseitige Informationen über nationale Gemeinschaften ausgetauscht werden. In einem zusammenwachsenden Europa ist es unmöglich geworden, eine Identität aufzubauen, die auf Abneigung gegen den Nachbarn beruht.
Europa besteht aus einer Vielzahl von nationalen Erinnerungskulturen, die sich nicht widersprechen müssen. Robert Traba postuliert daher die Schaffung einer neuen europäischen Identität, die aus einer Polyphonie der nationalen Kulturen bestehen würde. Er erforscht solche Perspektiven der Versöhnung von Erinnerungskulturen anhand der Selbstwahrnehmung von Polen und Deutschen.
Robert Traba weist darauf hin, dass in Deutschland die alltägliche Brutalität der Besatzung in Polen im allgemeinen Bewusstsein nicht wahrgenommen wird. Dass sie die Zerstörung der materiellen Lebensgrundlagen oder die Aufhebung aller moralischen Normen mit sich brachte. Dass die Polen fünf Jahre lang in ständiger Angst und Demütigung lebten.
Dieses fehlende Bewusstsein für die damals in Polen begangenen Verbrechen ist auch darauf zurückzuführen, dass in Deutschland die Besatzungszeit gemeinhin mit einem Zustand der politischen Abhängigkeit von den Alliierten von 1945 bis 1949 assoziiert wird. Doch waren dies keineswegs Zeiten der Rechtlosigkeit und Vernichtung.
Im deutschen Bewusstsein ist Stalingrad immer noch ein Symbol für die heldenhafte Verteidigung der Interessen des Vaterlandes, was aus polnischer Sicht erstaunlich sein muss. Ein wichtiges Element der deutschen Identität ist das Drama, das sich in Dresden im Februar 1945 abspielte, als die Stadt von den Westalliierten mit außergewöhnlicher Grausamkeit bombardiert wurde. Dresden wurde zum Symbol für die gnadenlose Ermordung des deutschen Volkes aus Rache.
Natürlich ist in Deutschland das Bewusstsein über die Verbrechen, die man den Juden angetan hat, weit verbreitet. Aber diese Verbrechen auf Zahlen zu reduzieren und sie gegen die eigenen Verluste in Dresden oder bei der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa aufzurechnen, lässt elementaren Respekt vor den Opfern vermissen. Hinter jedem unschuldig ermordeten Menschen stand ein individuelles Schicksal und individuelles Leid. Im deutschen Bewusstsein gibt es auch einen seltsamen Mythos, dass die Schuldigen irgendwelche mythischen Nazis waren, mit denen nur sehr wenige Deutsche etwas gemeinsam hatten.
Prof. Traba schmerzt auch, dass in Deutschland das Land Polen kein besonderes Interesse weckt und sich kaum jemand dafür interessiert. Und für die Identität der Deutschen spielt Polen ohnehin keine Rolle.
Genau umgekehrt verhält man sich in Polen, wo die Einstellung zu den Deutschen und die Entwicklung der Wahrnehmung des westlichen Nachbarn eines der wichtigsten Elemente der Identität ist.
Die Deutschen werden immer noch durch die Perspektive der im Krieg begangenen Verbrechen wahrgenommen. Dies ist an sich schon unakzeptabel, weil es eine Anwendung der kollektiven Schuld bedeutet. Auch
Robert Traba glaubt, dass in Polen die Identitätsbildung nur auf positive Elemente in der Geschichte reduziert wird.
Ein Beispiel dafür ist für ihn die Haltung gegenüber den von Deutschen ermordeten Juden. Die Erinnerung an sie spielt in keiner Weise eine Rolle in der polnischen Identität. Während des Krieges wurden vor den Augen der polnischen Gesellschaft täglich Tausende von Juden in die Gaskammern geschickt, und niemand fühlte sich dafür verantwortlich.
Traba erinnert hier an einen Text von Tomasz Szarota aus der Gazeta Wyborcza aus dem Jahr 1996, in dem er darauf hinwies, dass das Drama des Leidens der eigenen Nation zu einer Unfähigkeit führe, das Leid anderer Nationen zu sehen.
Robert Traba glaubt, dass grundsätzlich das Bewusstsein für schändliche Taten, die im Namen der eigenen Gemeinschaft begangen wurden, zu einem Indikator für die politische Kultur und den Modernisierungsgrad der heutigen Gesellschaften geworden ist.
Sie betrifft sowohl die historische Politik ganzer Länder als auch kleinerer Gemeinschaften. Robert Traba stellt fest, dass in Polen das Bewusstsein für diese Tatsache unzureichend ist.
Anhand dieser Beispiele zeigt er auf, dass sich die nationalen Erinnerungskulturen in den meisten Fällen nicht widersprechen, sondern unterschiedlich verteilte Schwerpunkte haben.
Robert Traba hofft daher, dass eine Versöhnung und gegenseitige Ergänzung der Standpunkte möglich sind. Er ist der Meinung, dass sich die nationalen Erinnerungskulturen gegenseitig inspirieren und ihre Unterschiede als gegenseitige Bereicherung wahrgenommen werden könnten.
Er postuliert die Sensibilität gegenüber den Vorstellungen anderer Nationalkulturen und die Akzeptanz von Interpretationen historischer Prozesse, die aus der eigenen Perspektive absurd erscheinen.
Die Herausbildung einer neuen europäischen Identität kann nicht auf Kosten anderer religiöser, sozialer oder nationaler Erinnerungskulturen erwartet werden. Es geht nur darum, die Perspektiven zu erweitern. Robert Traba behauptet, dass die Vielfalt der Identitäten für diese neue europäische Identität keine Bedrohung, sondern eine Chance ist.
Eine neue europäische Identität könnte auch eine grundlegende Bedeutung für die deutsch-polnischen Beziehungen haben. Sie würde einen großen Teil der Vorurteile und Abneigungen neutralisieren. Deshalb wird die Schaffung der Fundamente des gemeinsamen Gedächtnisses als eine der wichtigsten Aufgaben im Prozess der deutsch-polnischen Annäherung angesehen.
Sebastian Fikus