Wäre der Krieg nicht gewesen, wäre Nicolas Neve de Mevergnies in gerader Linie der Erbe des immensen Vermögens des Grafen von Matuschka von Bechau bei Neisse. Die Kunstsammlung seines Großvaters, bildet das Herzstück der Sammlung des Neisse-Museums. Unter anderem befindet sich dort die Kopie einer antiken Skulptur, die Graf Matuschka mit dem Gesicht seiner 40 Jahre jüngeren Frau, der Großmutter von Nicolas Neve, anfertigen ließ.
Das Schloss in Bechau wurde kürzlich von Nicolas Neve de Mevergnies, dem Enkel des letzten Schlossbesitzers Manfred Maria Aloysius Graf von Matuschka und Toppolczan, besucht. Graf Neve arbeitet als Berater der belgischen Botschaft in Warschau. Hätte es den Krieg nicht gegeben, wäre Nicolas Neve de Mevergnies heute Majoratsherr des Latifundiums von Bechau. Die Vertreibung der Deutschen aus Oberschlesien war für viele Familien eine schreckliche Tragödie. Vor allem für die jenigen, die das Antlitz dieses Landes über Jahrhunderte hinweg bewusst geprägt hatten.
Viele der schlesischen Adeligen waren Kunstmäzene, und einige legten in ihren Schlössern Sammlungen von europäischem Rang an. Zu den bedeutendsten von ihnen gehörte zweifellos Graf Manfred von Matuschka aus Bechau. Er war ein Exzentriker, der auch dadurch berühmt wurde, dass er eine Frau hatte, die 40 Jahre jünger war als er. Galla Avniely war eine russische Aristokratin, die der Bechauer Majoratsherr in Paris kennenlernte. Mit ihr hatte er später zwei weitere Töchter.
Die Familie von Manfred Graf von Matuschka war durch familiäre Verbindungen mit vielen bedeutenden schlesischen Stämmen verbunden. Seine Schwester Maria Aloysia wurde die Frau von Hyacinth Graf Strachwitz von Groß-Zauche und Camminetz, dem Majoratsherrn des Schlosses in Groß Stein. Sein Cousin, Michael Graf von Matuschka, war Bezirkshauptmann von Oppeln und später Aktivist in der antifaschistischen Widerstandsbewegung und wurde wegen seiner Beteiligung am Attentat auf Adolf Hitler am 20.07.1944 ermordet.
Die Tochter des Bechauer Majoratsherrs Manfred, Aloysia Maria Alexandrine, Gräfin von Matuschka und Toppolczan, heiratete dagegen einen belgischen Adeligen, Andre Neve de Mevergnies. Er war der Sohn einer bekannten belgischen Schriftstellerin, Marie de Rommre. Somit ist der gescheiterte Majoratsherr des Schlosses in Bechau auch ein Erbe der Tradition der Familie de Rommre.
Der Urgroßvater des gescheiterten Majoratsherrn von Bechau, Graf Charles de Rommre de Vichenet, entstammte einer der bedeutendsten belgischen aristokratischen Familien. Er war Politiker und Diplomat, belgischer Botschafter in vielen Ländern, darunter auch in Belgrad. Dort befreundete er sich Anfang der 1930er Jahre mit der Tochter des Botschafters, die Komtesse Marie de Rommre, mit dem 20 Jahre älteren Diplomaten aus Breslau, Werner Kiewitz, an. Kiewitz war damals Sekretär der deutschen Botschaft in Jugoslawien. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft, die ihr ganzes weiteres Leben andauern sollte.
Diese Freundschaft veränderte paradoxerweise die Rahmenbedingungen der Nazi-Besatzung in Belgien. Die Freundschaft mit Marie de Rommre war für Werner Kiewitz der Anstoß, sich für die Situation in Belgien zu interessieren.
Unter den Eliten des Dritten Reiches galt er als Experte und wurde deshalb zum ranghöchsten deutschen Beamten in Brüssel ernannt. Getrieben von seinen Gefühlen für seine belgische Freundin, machte er es sich zur Aufgabe, Belgien nicht nur vor dem Terror der Gestapo zu schützen, sondern auch vor der Desorganisation des Wirtschaftslebens.
Der Zufall wollte es, dass er bei diesen Bemühungen nicht ganz allein war. Ein entfernter Cousin des Majoratsherrn von Bechau wurde Befehlshaber der Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich, General Alexander von Falkenhausen aus Grunau bei Neisse. So wurde Belgien während der Besatzung von zwei Schlesiern verwaltet. Beide waren erklärte Gegner des Naziregimes. Die Wirksamkeit ihrer Aktivitäten im Untergrund ist aus der polnischen Perspektive schwer vorstellbar.
Werner Kiewitz unterhielt eine geheime, illegale Korrespondenz mit dem Vater von Marie de Rommre, der zu dieser Zeit Mitglied der belgischen Auswanderungsregierung in London war. Alexander von Falkenhausen hingegen unterhielt eine private Beziehung zu Prinzessin Elisabeth Ruspoli, mit der er in ihrem Familienpalast Seneffe lebte. Prinzessin Ruspoli engagierte sich stark in der belgischen Resistenz. Sie wurde unter anderem dadurch berühmt, dass sie die waghalsigen Fluchten britischer Flieger über Spanien nach London organisierte. Im Palast von Seneffe trafen sich bei feierlichen Festen die Führer des belgischen Widerstands mit Falkenhausen und Kiewitz. Und wenn die Gestapo eine für den Widerstand wichtige Person festnahm, setzte sich Kiewitz sofort für deren Freilassung ein.
Übersetzt man dies ins Polnische, wäre es so, als hätte Generalgouverneur Hans Frank eine offizielle Affäre mit der Tochter von Ministerpräsident Mikolajczyk gehabt. Und mit der er während des Krieges und hinter dem Rücken der Gestapo eine private Korrespondenz geführt hätte. Und der Befehlshaber des Militärbezirks des Generalgouvernements, General Siegfried Haenicke, hätte als seine offizielle Geliebte die Fürstin Czartoryska, die gleichzeitig eine der führenden Aktivistinnen des polnischen Untergrundstaates und der Heimatarmee gewesen wäre.
Und diese hypothetische Fürstin Czartoryska würde in ihrem Familienpalast Partys veranstalten, zu denen sie nicht nur Hans Frank und General Haenicke, sondern auch Grot Rowecki und Bór Komorowski einladen würde. Und diese Herren wüssten ganz genau, wer welches Amt innehatte. Bei französischem Cognac hätten sie gemeinsam über die Möglichkeiten einer Deeskalation der Konflikte zwischen der Heimatarmee und Gestapo nachgedacht. Um unvorhergesehene Situationen zu vermeiden, würden Hans Frank und Bór Komorowski in ständigem, Telefonkontakt bleiben. Das sind Visionen jenseits jeder Fantasie. In Belgien war die Besatzung derweil genauso.
Diese aus polnischer Sicht absurde Situation war vor allem eine Folge der Zuneigung von Werner Kiewitz zu Marie de Rommre, der Großmutter von Nicolas von Bechau. Für sie riskierte Kiewitz immer wieder sein Leben, um die Vertreter der belgischen Gesellschaft zu retten.
Man könnte paradoxerweise sagen, dass es der Großmutter von Nicolas Neve de Mevergnies zu verdanken ist, dass Tausende von Belgiern ihr Leben behalten haben und dass die Besatzung in Brüssel die mildeste in ganz Europa war. Werner Kiewitz wurde später wegen seiner Beteiligung an dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verhaftet.
Er wurde degradiert und zu einer Strafkompanie an der Front verurteilt. Dort erlitt er Verwundungen, die ihn für den Rest seines Lebens zu einem schweren Behinderten machten. Die Beziehungen zwischen den beiden Schlesiern und den Belgiern brachen 1945 keineswegs ab. Maria de Rommre traf sich auch nach dem Krieg weiterhin mit Kiewitz. Sie wurde eine bekannte belgische Schriftstellerin, die unter anderem mit Jarosław Iwaszkiewicz freundschaftliche Kontakte pflegte.
Alexander von Falkenhausen aus Grunau hingegen heiratete 1960 eine andere bekannte belgische Widerstandskämpferin, Cécila Vent. Sie war fast 30 Jahre jünger als der ehemalige Wehrmachtsgeneral.
Der Erbe all dieser ungewöhnlichen Verbindungen ist eben Nicolas Neve de Mevergnies. Der gescheiterte Majoratsherr des Gutes von Bechau hat eine Polin geheiratet und lebt mit ihr in Warschau. Herr und Frau Neve besuchten kürzlich ihr hypothetisches Bechau-Gut, wo sie die Gelegenheit hatten sich mit dem aktuellen Besitzer, Piotr Kocoń, anzufreunden. Kocoń führt derzeit eine umfassende Renovierung des ehemaligen Matuschka-Palastes durch und versucht, ihm seinen früheren Glanz zu verleihen.
In einigen Jahren wird das Gebäude eine architektonische Perle in der Landschaft des Oppelner Landes sein. Die Freundschaft zwischen den beiden Männern ist auch ein Symbol für die Versöhnung zwischen den früheren und heutigen Bewohnern Schlesiens. Das Schicksal der Familie des Grafen Nicolas Neve de Mevergnies ist kompliziert, aber es zeigt, wie sehr Schlesien mit der Geschichte Westeuropas verwoben war und ist.
Nicolas Neve ist ein Symbol für die Verbindungen, die im Zusammenhang mit der Integration der europäischen Regionen nicht vergessen werden dürfen. Dank solcher Wurzeln erstrahlt Schlesien wieder in neuem Glanz, wie das Schloss Bechau, das sich aus den Ruinen erhebt.